Lymphdrainage in der Zahnmedizin

Manuelle Lymphdrainage in der Zahnmedizin

Ein Beitrag von Physiotherapeut Ralf Schüler (Hamburg)

Die manuelle Lymphdrainage (ML) ist eine physiotherapeutische Behandlungsform, die sich an allen Körperabschnitten anwenden lässt, wo es infolge von Krankheit oder äußeren Einflüssen zu einer Störung der Mikrozirkulation mit der Folge einer lymphatischen Abflussstörung kommt. Sichtbares Zeichen einer solchen Störung ist der flüssigkeitsbedingte, interstitielle Gewebstumor. Je länger die Mikrozirkulation gestört ist, umso wahrscheinlicher kommt es zu einer weiteren Gewebsschädigung. Im Falle von operativen Eingriffen kann dies zu einer prolongierten Heilungsphase und erhöhter Infektionsgefahr führen. Der Patient hat mehr Schmerzen, ist länger inaktiv und nimmt meistens mehr Medikamente, um die unangenehmen Komplikationen abzuwenden.
Störungen der Mikrozirkulation finden sich jedoch auch in Geweben, die durch vegetative Fehlregulation geschädigt sind, als Beispiel seien die Folgen einer Algodystrophie (komplexe regionale Schmerzsyndrome oder CRPS) wie z.B. Morbus Sudeck genannt. Daher ist auch hier die ML indiziert.

Geschichte der Behandlungsform

Erste ernsthafte Untersuchungen zur Funktion der Lymphgefäße begannen um 1909 insbesondere durch Prof. Dr. Földi (Freiburg). Das dänische Ehepaar Vodder, beide Physiotherapeuten, behandelte in den 30er Jahren sehr viele Patienten mit Atemwegserkrankungen bei denen geschwollene Halslymphknoten durch streichende Techniken entstaut wurden. Erst 1963 übernahm der in Essen praktizierende Arzt Dr.med. Asdonk diese Technik. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinerlei wissenschaftliche Studien zu der Behandlungsform, sodass eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen nicht erfolgte. Dr. Asdonk begann deshalb mit der wissenschaftlichen Erarbeitung zur Wirksamkeit der Lymphdrainage. Arbeiten von Dr. Földi und Kuhnke bezogen sich auf die Grundlagenforschung. Die manuelle Lymphdrainage wurde am 01.11.1974 in den Leistungskatalog der VdAK aufgenommen.

Aktuelle Definition:

Über die Beschreibung, es handele sich um eine Sonderform der klassischen Massage lässt sich streiten. Beide Therapieformen wirken gänzlich unterschiedlich und unterscheiden sich deutlich hinsichtlich Ausführung und Kraftaufwand. Massage zielt in ihrem Wirksamkeitsspektrum auf vollkommen andere Effekte als die manuelle Lymphdrainage (ML) ab. Durchblu-tungsfördernd, gewebsmobilisierend und mit teilweise hoher Intensität hinsichtlich Kraft und Behandlungstiefe ist die Massage auf Manipulation von Faszien, Muskeln und Sehnen ausgerichtet. Die manuelle Lymphdrainage wird mit erheblich geringerem Drücken ausgeführt und wirkt damit im Bereich des interstitiellen Zellraumes der Subcutis. Manuelle Therapie kann sich nicht auf die Behandlung von artikulären Störungen beschränken, sondern muss vor allem auch zelluläre, neurale/energetische, muskuläre, fasziale und viszerale Strukturen und deren Funktionskreise implizieren. Die ML hat in diesem Sinne mit ihrem wissenschaftlich belegten Wirkspektrum einen festen Platz als manualtherapeutische Behandlungsform. Man kann somit die ML als eine der manuellen Therapie zugehörigen Weichteiltechnik ansehen.

Was ist Lymphe und wie funktionieren Lymphgefäße?

Lymphe entsteht als Ultrafiltrat der aus den Blutkapillaren abgepressten Flüssigkeit und enthält wasserlösliche Anteile wie Salze, Glucose, Enzyme und Fibrinogen. Im Verlauf des Lymphtransportes kann Lymphflüssigkeit auch Eiweiße und Lipide sowie Immunzellen enthalten. Großmolekulare Substanzen (Zelltrümmer oder Eiweiße) können die Blutgefäßwände nicht passieren. Somit ist der Transport aller großmolekularen Bestandteile im Körper nur über das Lymphgefäßsystem möglich.
Ausgehend vom interstitiellen Gewebe, dessen Zwischenräume als prälymphatische Transportbahnen (Földi) bezeichnet werden, wird die Lymphflüssigkeit in die initialen Lymphkapillaren (einschichtiges, nicht offenes Endothelzellrohr) befördert. Die Lymphe wird, ebenso wie großmolekulare Bestandteile, über Junktionen in die Lymphkapillaren befördert. Durch Interzellularspalten ist der Durchtritt von Makromolekülen bis zu einem Mr von ca. 40 000 möglich. Die postkapillären Lymphgefäße besitzen Klappen, die die Lymphe etager weitertransportieren und einen Reflux verhindern. Außerdem besitzen sie eine ringförmige Muskelschicht aus glatten Muskelzellen, die sich rhythmisch kontrahieren. Die Lymphangiomotorik wird vom Sympathikus beeinflusst. Alpharezeptoren regen die Angiomotorik an, Betarezeptoren bremsen sie.

Manuelle Lymphdrainage bei CMD-Patienten

Die Schmerzentstehung bei stomatognathen Störungen wird aus mehreren Quellen gespeist und generiert über verschiedene Kerngebiete im Hirnstamm (WDR-Neuron) eine Schmerzwahrnehmung. Dabei spielen propriozeptive, psychische, arthrogene, neuromuskuläre und viszerale Einflussfaktoren eine Rolle. Dem Modell von Simons & Travell folgend entsteht in einem Muskel immer dann ein Triggerpunkt, wenn die Tonusregulation des Muskels durch neuromuskuläre Fehlsteuerung gestört ist. Das Konzept der Energiekrisen-Hypothese erklärt den Hypertonus mit einem erhöhten Energieverbrauch in den Fasern, der zu einer Dauerkontraktion führt. Es entsteht eine lokale Übersäuerung und Anwesenheit von Neuropeptiden, die sowohl den Muskelstoffwechsel negativ beeinflussen, als auch als Schmerzmediatoren wirken. Durch Rückkopplungsmechanismen des intrafusalen Spindelapparates sowie durch segmentale spinale Rückkopplungen entsteht ein circulus vitiosus der zu einer intramuskulären Dauererregung führt. Dies ist eine Variante von muskulären Entgleisungsmöglichkeiten, die mit einer Milieuveränderung im Muskelgewebe einhergehen. Ein Anstieg säurebildender Stoffwechselendprodukte durch pathologisch erhöhte Muskelaktivität führt über Kettenreaktionen zur Freisetzung von Zytokinen und Entzündungsmediatoren (Histamin, Interleucin, Prostaglandin der A und E Reihe, Prostazyklin PGI2) sowie einer veränderten Blutgefäßpermeabilität in deren Folge vermehrt Lymphe anfällt. Da durch das veränderte extrazelluläre Milieu und der sympatische Regelmechanismus der Lymphgefäße gestört ist, kommt es nach einiger Zeit zu Gewebsschwellungen. Bei CMD-Patienten äußert sich dies in Verschattungen der Gesichtskonturen, Aufhebung von Gesichtsfalten und in teilweise deutlichen Schwellungen im Gesicht.
Bei länger gebahnten Schmerzen führt die extrasegmentale Verschaltung im Hirnstamm zu Störungen in Regionen, die nicht dem Gesichtsbereich zugeordnet werden können. Schwellungen im cervico-thorakalen Übergang, den Armen und Händen sind dann ebenfalls möglich. Durch die Anregung der Lymphtätigkeit ist es möglich, diesen circulus vitiosus zu durchbrechen und sehr schnell eine Normalisierung der Gewebssituation herbeizuführen. Eine lokale sowie eine konsensuelle Schmerzdämpfung kann durch die ML ebenfalls durch die Dämpfung der Sympatikusaktivität erreicht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für eine Besserung der Gesamtsituation ebenfalls alle anderen oben genannten Einflussfaktoren behandelt werden müssen. Nicht zu vernachlässigen ist, dass das extrazelluläre Milieu auch erheblich über eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr des Patienten beeinflusst wird. Plakativ gesagt: Wer nicht trinkt, kann auch keine lymphpflichtigen Substanzen ausscheiden. Dieser Mechanismus ist allerdings noch nicht ausreichend belegt, aber praxisrelevant.

Kontraindikationen der ML in der Zahnmedizin

  • Patienten mit unklaren malignen Tumoren (Metastasenstreuung)
  • Patienten mit malignen Tumorleiden, die sich noch in der Tumorbehandlung befinden
  • Patienten mit akuten bakteriellen Entzündungen im Kopfbereich, die nicht ausreichend antibiotisch behandelt werden; betrifft auch HNO-Infektionen (Keimstreuung)
  • Patienten mit Schilddrüsenfunktionsstörungen (siehe Behandlungsbereiche)
  • Sinusbradikardie, Karotissinussyndrom (Behandlung der Halsregion)

Was kann ML erreichen?

  • Schmerzlinderung durch Senkung des Sympatikotonus
  • Schnellere Normalisierung überschießender Gewebsreaktionen nach operativen Eingriffen
  • Verbesserung der Mikrozirkulation durch Senkung des interstitiellen Gewebsdruckes und dadurch geringeres Risiko für Hei-lungsstörungen

Indikationen der ML in der Zahnmedizin:

  • Patienten nach operativen Eingriffen ab dem ersten Tag
  • Schmerzzustände
  • Patienten mit Tonusstörungen der Gesichts- und Kaumuskulatur postoperativ z.B. nach Zahnextraktionen
  • Patienten mit Erkrankungen der Nasennebenhöhlen oder der oberen Atemwege mit Schwellungen
  • Patienten bei denen eine erschwerte Wundheilung zu befürchten ist (z.B. Diabetes, starke Raucher, Immundefekte, Haemophile, makumarisierte oder heparinisierte Patienten)

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