CMD und Tinnitus

Tinnitus bei Craniomandibulärer Dysfunktion

Literaturübersicht und Fallbericht von Dr. Christian Köneke (Bremen)

Der Tinnitus wird heute als Symptom anderer Erkrankungen und nicht als eigenständige Erkrankung gesehen (4). Prof. Seifert (12) bezeichnet den Tinnitus als „Symptom einer Informationsverarbeitungsstörung im Gehirn mit individuell geprägter emotionaler Reaktion“. Es wird der subjektive (z.B. cervikale) vom objektiven Tinnitus unterschieden (2, 6).

Für die Zahnmedizin relevant, weil gelegentlich im Rahmen einer CMD-Therapie beeinflussbar, ist der subjektive (non-auditorische) Tinnitus. Auch radiologische Auffälligkeiten im Sinne von „aberrierende(n) AICA-Schlingen am Kleinhirnbrückenwinkel konnten in Bezug zum Tinnitus... gesetzt werden“ (5). „Die Behandlung (des Tinnitus') orientiert sich einerseits an der Ursache, andererseits am Zeitverlauf und dem Schweregrad.

Bei objektiven Ohrgeräuschen steht eindeutig die exakte Ermittlung und ggf. Ausschaltung der körpereigenen physikalischen Schallquelle im Vordergrund. Bei subjektiven Ohrgeräuschen sind dagegen Zeitverlauf und Schweregrad für die Art der einzuschlagenden Therapie entscheidend. Hier muss nach akutem, subakutem und chronischem Tinnitus unterschieden werden. Richtet sich die Behandlung bei akutem Tinnitus im wesentlichen auf die Möglichkeit einer vollständigen Beseitigung des Tinnitus' oder einer deutlichen Minderung seiner Lautheit, ist bei chronischem Tinnitus dieses Ziel nur selten zu erreichen“ (8). Diese Aussage verdeutlicht die Ohnmacht, mit der Zahnärzte oft vor einem CMD-bedingten Tinnitus stehen, weil die Mehrzahl dieser Tinnitusträger einen bereits chronfizierten Tinnitus vorweist (6).
Generell gilt die Einstellung, dass der zahnärztlich-physiotherapeutischen Behandlung des Tinnitus' mit Vorsicht begegnet werden solle, da keine kontrollierten klinischen Studien vorlägen (13). Die Häufigkeit der Tinnituspatienten unter den CMD-Patienten wird im Schrifttum sehr uneinheitlich mit ca. 1- bis 5-fach erhöht gegenüber einer Kontrollgruppe angegeben (1, 3, 7, 10, 11). Umgekehrt fand Morgan (9) bei 95 Prozent der in einer Studie untersuchten Patienten, die an dem Hauptsymptom „Tinnitus“ litten, gleichzeitig zusätzlich Auffälligkeiten im Sinn einer CMD-Symptomatik.

Generell gilt für die Zahnmedizin, dass Patienten, bei denen sich während einer zahnärztlichen Manuellen Funktionsdiagnostik der Tinnitus in seiner Qualität verändert, Hoffnung auf Besserung durch eine CMD-Therapie bestehen darf. Die komplette Eliminierung des Tinnitus' bleibt jedoch im Rahmen der CMD-Therapie ein meist unerreichtes Ziel (6).

Fallbericht

Anamnese

Tinnitus seit ca. acht Wochen, zu Beginn links und rechts, nach 30 HNO-ärztlichen Infusionsbehandlungen und 38 Sauerstoff-Druckkammer-Therapie-Sitzungen jetzt noch links persistierend. Kein bekannter Auslöser. Der Tinnitus sei beim Spazierengehen plötzlich aufgetreten und dann geblieben. Auch nach häuslichem Entspannungsprogramm sei keine Besserung eingetreten. Es sei wegen des Verdachtes auf einen cervikal bedingten Tinnitus mehrfach eine chiropraktische Behandlung in den vergangenen acht Wochen durchgeführt worden; zuvor seien chiropraktische Behandlungen eher selten gewesen. Keine Unfälle in der Vorgeschichte. Die Krone im rechten Oberkiefer und die Brücke im rechten Unterkiefer seien erstmalig vor ca. einem Jahr eingegliedert worden. Die Brücke habe zunächst „seltsam gesessen“, sei aber nach einem Tag passend gewesen. Überweisung durch Orthopäden mit Verdacht auf Tinnitus durch Fehlbisslage.

Befunde

Gelenkrelevanter Kurzbefund:

OK-Mittellinie stimmt mit der Gesichtsmitte überein, UK-Schwenkung ca. 2 mm nach links. Vorkontakt in Zentrik im Prämolarenbereich rechts. Beinvorschub bei Okklusion rechts +ca. 2 cm, ohne Okklusion kein Beinvorschub.

Dentaler Befund:

zahnbefund_cmd

Verkürzte Zahnreihe OK links (seit vielen Jahren). Im Unterkiefer links ungünstig profilierte ältere Amalgamfüllungen. Weitere ältere Amalgamfüllungen im OK. Keramisch verblendete Brücke im rechten UK, keramisch verblendete Krone im rechten OK. Fehlender Zahn 17 ohne Ersatz. Karies am Zahn 15.

Ausgangsmodelle:

kiefer_von_der_seite_cmdkiefer_von_vorne_cmdkiefer_von_der_seite_cmd

Befund der Manuellen Funktionsdiagnostik:

  • Unterkieferbeweglichkeit aktiv und passiv normal weit und unauffällig.
  • Endgefühl bei Kompression retrusiv rechts und links: zu hart. Keine Schmerzhaftigkeiten bei sämtlichen Kompressionen, Traktionen und Translationen.
  • Terminales Kiefergelenkknacken rechts und links, wird bei dynamischer Kompression excursiv lauter und tritt später ein, ist bei dynamischer Kompression incursiv nicht mehr auskultierbar und ist bei dynamischer Translation medial ebenfalls nicht mehr auskultierbar.
  • Druckdolenzen in folgenden Muskeln: M. temporalis anterior rechts deutlich, links weniger deutlich; M. trapezius rechts. Sonst muskulär eher unauffällig.
  • Isometrietests bei Mediotrusion, Adduktion und Abduktion unauffällig.
  • Trigeminusdruckpunkte unauffällig.
  • HWS-Beweglichkeit eingeschränkt.
  • Tinnitus links wird während der Untersuchung lauter.
  • Kopfrotationseinschränkung.


Therapie

Initialer Therapievorschlag:

  1. Orthopädische Deblockierung
  2. Registrierung der Zentrallage des Unterkiefers
  3. Eingliedern einer Funktionsschiene
  4. Physiotherapie und Schienenkorrektur nach Physiotherapie

Therapieverlauf

  • 20.4.2004Schritt 1

    Orthopädische Deblockierung und Eingliedern einer Funktionsschiene in vorläufiger Zentrik am selben Tag.

    cmd-therapie_1 cmd-therapie_2 cmd-therapie_3 cmd-therapie_4 cmd-therapie_5
  • 28.4.2004Schritt 2

    Vier physiotherapeutisch-craniosacraltechnische Doppelstundenbehandlungen mit unmittelbar daran anschliessenden Bisslagekorrekturen auf der Schiene.
  • 14.5.2004Schritt 3

    Neue Oberkiefer-Funktionsschiene bei mittlerweile deutlich veränderter Zentrik und bereits erreichter Dekompression in beiden Kiefergelenken eingegliedert.

    cmd-therapie_1 cmd-therapie_2 cmd-therapie_3
  • 14.5.2004-8.6.2004Schritt 4

    Vier physiotherapeutisch-craniosacraltechnische Doppelstundenbehandlungen mit unmittelbar daran anschliessenden Bisslagekorrekturen auf der Schiene.
  • 8.6.2004Schritt 5

    Langsame Besserung des linksseitigen Tinnitus' wird für den Patienten spürbar.

Prognose und Epikrise

Unter der weiter fortgesetzten Behandlung der Kiefergelenke könnte sich der Tinnitus voraussichtlich weiter zurückbilden. Bis zu welchem Grad eine Rückentwicklung des Tinnitus' erfolgen kann, ist derzeit noch nicht absehbar.
Dieser Fall ist einer der selteneren Fälle, in denen die zahnärztliche CMD-Therapie eine Entlastung vom Symptom Tinnitus gebracht hat. In den meisten Fällen kommt der Zahnarzt bei den eigentlich zahnärztlich beeiflussbaren Tinnitusfällen zu spät, weil eine lange Odyssee des Patienten vor dem Weg zum Zahnarzt vorliegt. Der Fall zeigt, dass bei rechtzeitigem Eingreifen des Zahnarztes Hoffnung auf einen Behandlungserfolg bestehen kann. Eine schnellere Überweisung von Tinnituspatienten zum CMD-spezialisierten Zahnarzt ist daher wünschenswert.


Literatur:

  1. G. B. Brokes, A. R. Maw, M. J. Coleman (1980): Costen's Syndrome – Correlation or Coincidence, Clin. Otolaryngol., 5, 23-36.
  2. S.W.Y. Chan, P.C. Reade (1994): Tinnitus and Temporomandibular Pain. Dysfunction Disorder. Clin. Otalaryngol. 19, 370-380.
  3. R. A. Chole, W. S. Parker (1992): Tinnitus and Vertigo in Patients with Temporomandibular Disorder, Arch Otolaryngol Head Neck Surg, vol 118, 817-821.
  4. H.Gelb, M. L. Gelb, M. L. Wagner (1996): The Relationship of Tinnitus to Craniocervical Mandibular Disorders, Journal of Craniomandibular Practice vol 15, no. 2, 136-143.
  5. L. Jäger, B. Arnold, U. Müller-Lisse, G. Grevers, M. Reiser (1995): Vaskuläre, entzündliche und tumoröse Läsionen des Os temporale und des Kleinhirnbrückenwinkels: Ein kernspintomografischer Ansatz. Laryngo-Rhino-Otol. 74, 57-61.
  6. C. Köneke et al. (2004): Die interdisziplinäre Therapie der Craniomandibulären Dysfunktion, Quintessenz-Verlag.
  7. R. Lechtenberg, A. Shulman (1984): The Neurologic Implications of Tinnitus, Arch Neurol, vol 41, 718-721.
  8. T. Lenarz (1999): Tinnitus, HNO 47, 14-18.
  9. D. H. Morgan (1992): Tinnitus of TMJ Origin: A preliminary Report, Journal of Craniomandibular Practice, vol 10, no. 2, 124-129.
  10. I. Peroz (2001): Otalgie und Tinnitus bei Patienten mit kraniomandibulären Dysfunktionen, HNO, 49, 713-718.
  11. B. Rubinstein (1990): Prevalence of Signs and Symptoms of Craniomandibular Disorders in Tinnitus Patients, vol 4, no. 3, 186-192.
  12. K. Seifert (2002): Tinnitus und Kauapparat, Manuelle Medizin, 40, 306-309.
  13. J.C. Türp (1998): Zum Zusammenhang zwischen Myoarthropathien des Kausystems und Ohrenbeschwerden (Otalgie, Tinnitus), HNO, 46, 303-310.